Über 100 Einsendungen haben wir bekommen für den Schreibwettbewerb "Es war einmal". Ein großer Erfolg, mit vielen kreativen und märchenhaften Geschichten. Die Festspieljury hat nun die 5 besten Beiträge ausgewählt. Diese 5 Geschichten könnt ihr hier lesen, und dann abstimmen für den Gewinnerbeitrag.
Das gewinnende Märchen wird am 8. Juli 2024 bei der OPEN STAGE auf der Bühne vorgetragen!
Jetzt abstimmen, noch bis zum 30. Juni 2024!
Es war einmal ein armes Mädchen, das hatte ein so großes und überschwängliches Herz, dass es ihr eines Tages geradewegs aus der Brust sprang. Da es an der frischen Luft unbekümmert weiter schlug, wollte niemand es dem Mädchen wieder in die Brust einsetzen: der Barbier nicht und nicht der Schmiedemeister. Auch nicht der Buchbinder und der Bierbrauer, die das Mädchen in seiner Not aufsuchte. Der Bäcker schließlich, der das Mädchen, unter dem Gewicht des schweren Herzens schwankend, an seiner Stube vorbeikommen sah, hatte Mitleid mit ihr und wollte ihr helfen. ...
„Hast du denn nichts, wo du dein Herz hineinlegen könntest?“, rief er ihr zu. Als das Mädchen auf seine Frage hin nur traurig den Kopf schüttelte, sah der Bäcker sich in seiner Stube um, ob er nicht etwas fände, in das man ein Herz einhüllen könnte. Schließlich fiel sein Blick auf einen schlaff an der Wand lehnenden, leeren Mehlsack. Den brachte er ein wenig verlegen dem Mädchen, das sogleich dankbar das Herz hineinlegte. Von da an trug sie ihr Herz stets über ihre Schulter geworfen im Mehlsack und nie mehr bereitete es ihr Mühe, es zu tragen.
Es begab sich, dass ein reicher Kaufmann in die Gegend kam, der, wie alle reichen Kaufmänner, auf der Suche war nach einem ertragreichen Geschäft. Als er sich gerade ins Gasthaus begeben wollte, wie er es stets zuerst tat in einer fremden Stadt, um über Land und Leute etwas zu erfahren, kreuzte sein Weg den des Mädchens mit seinem Mehlsack. An einem solchen ist ja beileibe nichts Besonderes zu finden – doch hält man einen Mehlsack, in dem man sein Herz spazieren trägt, nun doch anders, umsichtiger, liebevoller, als einen ganz gewöhnlichen Mehlsack. Im Kopf des Kaufmanns begann es zu arbeiten. Die Zahnräder der Geldpresse seines Verstandes setzten sich in Gang.
So beiläufig wie seine Gier es zuließ, begann der Kaufmann darauf, den Wirt über das Mädchen und den Sack auszufragen, in dem er einen wertvollen Inhalt vermutete, an dem er sich mit seinem Geschick schon zu bereichern wüsste.
Der Wirt, dem der Bierbrauer erzählt hatte, was sich zugetragen hatte, winkte sogleich ab. „Ach, da ist nichts Wertvolles drin in dem Sack. Nur ihr Herz.“
Grübelnd hörte der Kaufmann die ganze Geschichte. Nein, aus einem Herz ließ sich tatsächlich nicht leicht etwas herausschlagen. Doch ganz wollte ihn der Gedanke nicht loslassen, auf eine versteckte Goldader gestoßen zu sein.
„Besonders groß ist es, das Herz?“, hakte er nach.
„So groß und so schwer wie ein Maßkrug, sagt der Brauer.“
Da lachte der Kaufmann, der ein sehr mageres, kümmerliches Herz hatte, sich ins Fäustchen. Denn, so sagte er sich: „Wer ein großes Herz hat, der lässt sich besonders leicht übers Ohr hauen“.
Er fragte den Wirt, wo das Mädchen zu finden sei und suchte es sogleich auf.
Eine rührende, erfundene Geschichte tischte der Kaufmann dem Mädchen auf, das ihr die Tränen in die Augen trieb und ihr Herz im Mehlsack vor Erregung zappeln ließ. Der Kaufmann erzählte von einem König mit einem goldenen Herzen, das ihm so schwer geworden war, dass man ihm es aus seiner Brust hatte heben müssen. Unter einer Glasglocke stand es seither im Thronsaal ausgestellt, wo es in seiner eigenen, stummen Sprache von der Güte und Sanftmut des Königs sprach. Bis es ihm eines Tages aus dem Thronsaal gestohlen wurde, eine Tat, die sein Land und sein Volk ins Unglück stürzte. Denn ohne sein goldenes Herz in der Nähe seiner Brust waren seine Entscheidungen mit einem Mal von einer steinernen Härte, sein Wesen ohne Freude und Gnade. Die einzige Hoffnung auf eine Rettung aus dieser misslichen Lage wäre einzig und allein ein gutes, warmes Herz, das dem König zum Geschenk gemacht werden würde. Nur so wäre das Königreich noch zu retten und für das Wohl des Volkes gesorgt.
Da gab ihm das Mädchen betroffen sein Herz. „Ich weiß nicht, ob es von großer Hilfe sein wird“, sagte sie. „Es wird immer für mich schlagen. Aber vielleicht auch für jemand anderes, wenn er gut zu ihm ist.“
Mit kaum unterdrücktem Triumph riss der Kaufmann dem Mädchen das Herz aus der Hand.
„Du hast ein gutes Werk getan, Mädchen“, rief er ihr noch zu, als er bereits halb aus der Tür getreten war.
Den König mit dem gestohlenen goldenen Herzen, den gab es nicht. Dafür aber einen König mit einem fauligen, pockennarbigen Herzen, der dem Kaufmann für viel Geld das Herz des Mädchens abkaufte und es an eine Prinzessin eines angrenzenden Reiches verschenkte, bei der er es als das seinige ausgab.
Die Prinzessin, die für den König keinerlei Gefühle hegte, behielt das Herz als Briefbeschwerer auf ihrem Sekretär, wo es langsam einstaubte. Aus Einsamkeit und weil man ihm keine Liebe entgegenbrachte, wurde es immer schwerer, so schwer schließlich, das es den Sekretär unter seinem Gewicht zusammenbrechen ließ und wie ein Stein auf dessen Überresten thronte.
„Ein schweres Herz ist keinen Deut besser als ein gebrochenes“, sprach die Prinzessin ärgerlich und befahl einem Diener, es in einen nahegelegenen Steinbruch zu werfen.
Der Diener hatte sich bereits auf den Weg gemacht, da kam ihm der Bruder der Prinzessin entgegen, der lange Zeit auf Reisen gewesen war. Als das Herz die Nähe des Königssohns spürte, war es sogleich wieder von Leichtigkeit und Freude erfüllt. Wie es dem Mädchen vor nunmehr langer Zeit aus der Brust gesprungen war, so sprang es nun dem überraschten Königssohn mitten in die Arme. Der betrachtete es ergriffen und fragte schließlich den Diener, wessen Herz das wäre.
„Das des Königs Roderich, Eure Majestät.“
„Nein“, widersprach der Königssohn da dem Diener. „Das ist ganz und gar unmöglich. König Roderich hat, wie jeder weiß, ein ganz und gar kümmerliches Herz. Doch ein schöneres als dieses kann es auf der Welt nicht geben.“ Von da an war das Herz in seiner Obhut.
Es begab sich, dass der Königssohn im Auftrag seines kranken Vaters, des Königs, sogleich wieder auf Reisen gehen und sehen sollte, ob es dem Volke gut erging oder ob es sich zu beklagen hatte.
Das Herz steckte der Königssohn in seine Satteltasche und sprach zu ihm: „Du wirst mir dabei helfen, mild und gerecht zu handeln.“
Lange Zeit ritt der Königssohn durch das ganze Land. Es mochte wohl durch das Zutun des Herzens in seiner Tasche gewesen sein, dass er eines Tages schließlich durch das Dorf kam, in dem das Mädchen wohnte.
An der Backstube kam er vorbei, wo der Bäckermeister sich durch eine kleine Geste so großzügig gezeigt hatte. Auch am Gasthaus ritt er vorüber, wo der Kaufmann seinen heimtückischen Plan geschmiedet hatte.
Unten am Fluss wuschen die Dorffrauen ihre Wäsche. Unter ihnen war auch das Mädchen mit der leeren Brust, das ihr Herz sehnlichst vermisste. Als der Königssohn an ihnen vorüberreiten wollte, sprang das Herz in einem großen Bogen aus seiner Satteltasche heraus und dem Mädchen direkt in die Arme. Der Königssohn begriff sogleich, das das Herz wieder nach Hause gefunden hatte. Und da er nun wusste, wem das schönste und größte Herz der Welt gehörte, nahm er das Mädchen sogleich zur Frau. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.
Es war einmal eine gute Königin, die regierte seit 15 Jahren allein ihr Reich. Als sie sich eines Morgens im Spiegel besah, da wurde ihr mit einem Male klar, dass der größte Teil ihres Lebens bereits verstrichen war. Sie drehte sich zu ihren Kammerdienerinnen um und sprach: „Wer alt ist, wird krank. Wer krank ist, wird schwach. Und wer schwach ist, kann nicht regieren.“ So fasste sie den Entschluss, ihr geliebtes Königreich noch im rechten Moment in die Hände ihrer einzigen Tochter zu legen. Doch vorher wünschte sie sich nichts sehnlicher, als dass die Prinzessin heiratet, denn die Königin wusste aus eigener Erfahrung, wie einsam es um sie in ihrer Berufung stand. ...
Die Prinzessin aber wusste im ersten Moment nicht so recht, was sie von dem Plane ihrer Mutter halten sollte. An eine Heirat hatte sie noch nie gedacht und auch sonst hatte sie ihre Freiheiten doch recht liebgewonnen. An einem lauen Sommertage suchte sie den Rat ihres engsten Freundes, denn sie wollte ihrer Mutter doch keine Enttäuschung sein. „Wie stellst du dir den Menschen an deiner Seite vor?“, fragte dieser. „Klug soll er sein. Und gut soll er sein. Der Mensch soll mir zuhören, mir sein Vertrauen schenken und mich zum Lachen bringen.“, sprach die Prinzessin. „Und wie soll er aussehen?“ „Das ist mir einerlei!“, rief sie aus. „Nun, so rate ich zu einem offenen Ball. Ladealle Menschen des Landes und weit über die Grenzen in das Schloss ein.“ Die Prinzessin nickte begeistert. „Und weil mir das Aussehen einerlei ist, so soll es ein Maskenball sein!“
Der Entschluss war gefasst und 12 Tage später war der Tanzsaal randgefüllt mit bunt verkleideten Gestalten. Die Prinzessin wusste kaum, wie ihr geschah, als sie sich inmitten der Massen immer zu im Kreise drehte. Jeder wollte mit ihr tanzen, mit ihr sprechen und sie umwerben. Ihr schwirrte der Kopf und der Wunsch nach einem Moment Ruhe wurde so groß, dass sie sich durch eine kleine Nebentür in einen der leeren Flure des Schlosses flüchtete. Drinnen im Saale hörte sie noch die Musik spielen und das Gemurmel der Gäste. Sie trat zum Fenster heran, schaute in die tiefe Dunkelheit hinaus und wünschte dem Abend ein schnelles Ende. „Darf ich bitten?“, ließ die Stimme einer Frau hinter ihr verlauten. Die Prinzessin fuhr herum. „Was bitten sie?“ Eine Frau gehüllt in ein goldenes Feengewand stand hinter ihr und streckte ihr eine Hand entgegen: „Um einen Tanz?“ Die Prinzessin war so angetan von der Schönheit und zugleich so verwirrt, sodass sie entgegnete: „Ich habe genug getanzt, meine ich.“ Die Frau im Feengewand drehte sich zum Rückzug um: „Dann möchte ich Sie nicht weiter aufhalten.“ „Wartet…!“ Die Prinzessin aber lief ihr nach und es reichte nur eine Geste und schon drehten sich beide gemeinsam im Takte der fernen Musik durch die weiten leeren Flure. Die Prinzessin war ganz angetan von den tiefgrünen Augen der verkleideten Frau, die so viel Vertrauen ausstrahlten und ihre goldenen Flügel flatterten so täuschend echt durch die Lüfte. Sie liefen Hand in Hand nach draußen in die klare Sommernacht und unter dem hellen Lichte des Vollmondes sprach die Prinzessin: „Das wir uns heute trafen, dass muss wahrhaftig des Schicksals Werke sein.“
Die verkleidete Fee konnte nur nicken, denn sie spüre es ganz genauso und es hatte ihr sogar die Sprache verschlagen.
Doch bevor die Prinzessin sie wieder zurück in die Gemäuer des Schlosses zog, um sie ihrer Mutter vorzustellen, da fand die Fee doch wieder ihre Worte und hielt die Prinzessin am Arm. „Wartet! Ich bin nicht die, für die Ihr mich haltet. Das ist kein Gewand, keine Maske. Das bin ich. Ich bin eine Fee.“ Doch die Prinzessin lachte nur und entgegnete: „Ob Fee, ob Mensch, ob Zwerg oder Riese, ob Frau oder Mann. Wenn das Schicksal so will, nehmen wir das Glück doch dankend an.“
Noch in der gleichen Nacht stellte die Prinzessin ihre Fee der Mutter vor. Die Königin war außer sich: „Oh meine Tochter, hast du schon vergessen, was dieses Volk uns angetan hat? Was der Bruder dieses Wesens deinem Vater, unserem König, angetan hat? Er würde heute noch hier sein, wenn nicht…“ Die Stimme der Königin brach vor lauter Schmerz der Trauer ab, sie hatte in all den Jahren nicht ein Wort darüber verloren. Doch sie fasste sich schnell und rief mit Zorn aus: „Sie verlässt auf der Stelle den Grund und Boden meines Schlosses! Sonst lasse ich die Wachen rufen!“ Die Prinzessin schritt voller Empörung in Richtung der verängstigten Fee. „Aber Mutter, wie kannst du nur- “. Die Königin sprang von ihrem Thron auf. „Geht mir aus den Augen! Alle!“
Die Prinzessin saß die darauffolgenden Tage zutiefst traurig in ihren Gemächern und wollte niemand sehen oder hören. Sie dachte immer zu an ihre Fee. Die Königin konnte es kaum ertragen, ihre Tochter so traurig zu sehen, doch an ihrem Entschluss wollte sie nichts ändern. Sie schenkte ihr neue Kleider, versuchte sie mit einem neuen Pferd im Stall aus ihren Gemächern zu locken und veranstaltete einen zweiten Ball. Doch die Prinzessin ließ sich nicht mehr blicken. Nach weiteren fünf Tagen richtete sich die Königin voller Verzweiflung an ihren ersten Berater, auf dessen Meinung sie große Stücke hielt.
Dieser sprach: „Erlauben Sie mir diese eine Bemerkung. Sie laden die Schuld des Einen auf die Schultern einer Unschuldigen. Die Fee, die sie vom Hofe gejagt haben, hat nichts mit der tragischen Nacht vor 15 Jahren zu tun.“ „Aber ich will doch nur das Beste für mein Kind, bevor ich aus dieser Welt scheide.“, entgegnete die Königin. „Doch kann es das Beste sein, sie in Traurigkeit und Unglück zurückzulassen, wo das Schicksal doch einen anderen Plan für sie hatte?“ Das gab der Königin zu denken. Sie ließ nach der Fee schicken und ihre Wachen suchten drei Tage und drei Nächte nach ihr, bis sie diese in einem weit abgelegenen Waldstück am Rande einer Schlucht fanden. Sie kamen gerade noch rechtzeitig, denn die Fee wollte getrieben von ihrem Kummer die Klippen hinunterspringen.
Sie brachten sie zurück ins Schloss und noch in derselben Woche hielten sie Hochzeit und luden alle Menschen und Wesen im Reich und weit über die Grenzen hinaus ein.
Und wenn das Schicksal so will, dann leben sie noch heute.
Es lebte einmal vor nicht allzu langer Zeit, nicht allzu weit entfernt vom Kesselstädter Märchenreich, ein kleines Mädchen, das in Hanau geboren wurde und dort auch aufwuchs. Für sein Leben aß es gerne Frösche; also nicht die richtigen Frösche am Main oder die Kröten am Kaiserteich, sondern die kleinen Gummifrösche aus dem Kiosk. Jedes Mal, wenn es seine Mark Taschengeld bekam, ist es mit einem Ziel im Visier losgeradelt: Kiosk Rotbart. Hierbei musste es immer zwei Straßen überqueren. Zum Glück gab es hier in der Karlsbader Straße damals schon einen Zebrastreifen. ...
Eines Morgens, nachdem das kleine Mädchen von der Mutter Taschengeld bekam, machte es sich freudestrahlend auf den Weg zum Kiosk, mit dem Fahrrad und einem neuen stilvollen Fahrradkörbchen. So wie es beigebracht wurde, stieg es vor dem Zebrastreifen ab und schaute sowohl nach rechts als auch nach links, ob sich ein Auto nähert; danach wurde das Rad über die Straße geschoben.
„Guten Morgen, Herr Rotbart“ rief es noch bevor das Fahrrad abgestellt war. „Guten Morgen, Schneewittchen. Na, hast du wieder Taschengeld bekommen“ fragte der Kioskmann rhetorisch. Das kleine Mädchen hatte Haut so weiß wie Schnee, Lippen so rot wie Blut und Haare so schwarz wie Ebenholz, weshalb er es „Schneewittchen“ nannte.
Schneewittchen grinste breit, kramte die Mark heraus und hielt sie in ihrer kleinen Hand vor seine Nase. „Lass mich raten, du möchtest bestimmt eine Tüte voll mit Fröschen?“, sie nickte eifrig und strahlte über das ganze Gesicht, welches leicht errötete. „Herr Rotbart, weißt du, warum ich immer nur Frösche kaufe?“ fragte sie verlegen. „Weil du sie am liebsten magst?“ vermutete der Kioskmann. Sie schaute zu Boden und flüsterte: „Nein. Mama sagt, es sei nicht einfach einen Prinzen zu finden bis man groß ist - zuvor muss man viele falsche Frösche küssen, die sich leider nicht in einen Traumprinzen verwandeln werden“. Der Mann grinste und fragte neugierig: „Was hat das mit den Gummifröschen zu tun?“. „Na ist doch einleuchtend: jeder Frosch bekommt von mir einen Kuss - wenn ich dann groß bin, habe ich schon ganz viele Frösche geküsst und dann kommt mein Traumprinz schneller und ich muss nicht solange warten wie die anderen.“
Der Kioskmann konnte sich nicht halten und sein Bauch fing an zu wackeln vor Lachen. „Ach Schneewittchen, du bist ja richtig clever“, lobte er sie und gab ihr die Tüte mit den Fröschen. „Dann pass bloß auf, dass du dir keinen roten Apfel von einer alten Hexe andrehen lässt“ sagte er wohlweißlich zum Abschied. Natürlich kannte das Mädchen die Geschichte vom Schneewittchen und wusste, was er damit sagen wollte. Äpfel mochte es sowieso nicht sonderlich, es liebte Bananen und wusste auch, wie man sie richtig schält. Sie winkten sich noch, dann wurde die Froschtüte in den Fahrradkorb gelegt.
Am Zebrastreifen angekommen schaut das Mädchen nach links und rechts - da kein Auto zu sehen war, radelte es über die Straße. Und da passierte es plötzlich. Ein Auto kam um die Kurve aus der Burgallee geschossen. Zum Glück hat der Fahrer das kleine Mädchen gerade noch rechtzeitig gesehen und legte eine Vollbremsung hin. Das Mädchen erschrak, verlor die Kontrolle über die Lenkung und fiel dann mitten auf der Straße hin. Die Frösche flogen im hohen Bogen aus dem Fahrradkorb, die Tüte platzte und die Frösche verteilten sich auf der Straße. Das Auto kam kurz vor dem Fahrrad des Mädchens zum Stehen.
Der Fahrer stieg hastig aus und rannte eilig zu dem Mädchen, das stocksteif auf der Straße saß. Es hatte eine Schürfwunde am Knie und die schönen weißen Schuhe hatten nun hässliche Kratzer. Es fing zu weinen an. „Meine Frösche… sie sind alle weg… wie soll ich so jemals meinen Prinzen finden…“ jammerte es kläglich und der Mann schaute verdutzt hinunter zur scheinbar Verletzten. Tränen liefen über das traurige Gesicht. „Mädchen, was fehlt dir, bist du verletzt, hast du Schmerzen? Wo sind deine Eltern? Ich rufe einen Krankenwagen!“ sprach der Mann und plötzlich stieg noch jemand aus seinem Auto. Das kleine Mädchen schaute auf und legte den Kopf schief. Ein kleiner Junge mit blondem lockigem Haar und blauen strahlenden Augen fragte neugierig: „Papa, ist ihm etwas zugestoßen?“ Er ging langsam auf das auf der Straße sitzende Mädchen zu und betrachtete das verwundete Knie. Schneewittchen weinte nicht mehr und glotzte ihn verdattert an - sooo hübsch war er. Der Junge kramte in seiner Hosentasche, zog ein Pflaster heraus und fragte „Darf ich?“, was unbeantwortet blieb. Er tupfte vorsichtig das Blut mit einem sauberen Tuch ab und klebte das Pflaster auf die kleine Wunde.
Schneewittchen zuckte nicht mal, sie schaute ihn immer noch mit großen Augen an. Das Pflaster zierte ein kleiner Frosch mit einer Krone. „Das habe ich heute von einer netten Dame aus dem Rathaus bekommen. Wir sind erst hergezogen, also ganz neu in Hanau. “ erklärte er ihr und wollte wissen, ob sie die Geschichte vom Froschkönig auch kenne. Sie antwortete freudig „Ja, das ist meine Lieblingsgeschichte der Gebrüder Grimm“, er grinste sie an und erwiderte mit heller Stimme „meine auch.“ Er half ihr auf die Beine, während sein Vater das Fahrrad und die Frösche von der Straße sammelte.
„Es tut mir so leid, ich habe dich zu spät gesehen. Ich kenne mich hier leider noch nicht so gut aus. Können wir dich nach Hause bringen, damit ich kurz mit deinen Eltern sprechen kann?“ Sie nickte. „Und eine große Tüte neue Frösche hole ich dir natürlich auch.“ Der Mann wollte sich gerade auf dem Weg zum Kiosk machen, da rief sie „nein danke, die brauche ich nicht mehr.“ Sie schielte zu dem Jungen rüber, der sie immer noch an der Hand hielt, um sie von der Straße zu führen. Er lächelte sie liebevoll an. Die beiden wurden Freunde und spielten jeden Tag zusammen. Das Mädchen holte sich von diesem Tag an nie wieder Frösche, denn ihren Traumprinzen hatte sie bereits gefunden. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute glücklich in Kesselstadt, nicht weit entfernt vom Märchenreich.
In einem fernen, vergangenen Zeitalter existierten zwei benachbarte Königreiche in einem bezaubernden, grünen Land, das von einem mächtigen Fluss durchzogen wurde. Das eine Königreich erstreckte sich entlang des Flusses, bewohnt von Menschen, die mit emsiger Hand die Felder bewirtschafteten und eine pulsierende Stadt im Herzen ihres Reiches errichtet hatten. Das andere Königreich, gelegen in den dichten Wäldern und majestätischen Bergen des Landes, beherbergte die Zwerge, wahre Meister der Schmiedekunst, die Metalle und Edelsteine aus den unendlichen Tiefen ihrer Bergheimat gewannen. Trotz ihrer Nähe zueinander pflegten die beiden Reiche keine freundschaftlichen Beziehungen. Die Menschen mieden den dichten Wald und die schroffen Berge der Zwerge, denn ihre Legenden besagten, dass die Zwerge ihr Holz nicht mit den Menschen teilten und man erzählte sich von Holzfällern, die zu tief in den Wald der Zwerge vorgedrungen waren und nie wieder nach Hause zurückkehrten. ...
Von diesen Geschichten ahnten die Zwerge unter den Bergen nichts. Sie empfanden die Menschen als egoistisch, da sie fast das gesamte Wasser des Flusses für ihre Felder umleiteten und für sie selbst und ihre Brennöfen lediglich das Schmelzwasser aus den Bergen übrigblieb.
Der König der Zwerge, von unzähligen Jahren gezeichnet, hatte eine Fülle von Nachkommen. Jedes seiner Kinder war mit einem einzigartigen Talent gesegnet, das es auszeichnete. Doch es fiel im sehr schwer seinem jüngsten Sohn, der bislang keine besondere Stärke gezeigt hatte, die selbe Wertschätzung zukommen zu lassen wie seinen Geschwistern. Eines Tages rief der König daher seinen jüngsten Sohn zu sich und sprach: “Es ist an der Zeit, dass sich offenbart, wo deine Stärken liegen, mein Sohn. Vielleicht liegt sie in der Kunst der Schmiedeeisen, wie bei deinem ältesten Bruder, der sowohl die robustesten Äxte als auch die zierlichsten Schmuckstücke erschaffen kann. Oder vielleicht in der Kunst der Jagd, wie bei deinem zweitältesten Bruder, der im Winter unter dem Schutz der Berge mit geschlossenen Augen ein Kaninchen aus hundert Fuß Entfernung mit Pfeil und Bogen erlegen kann. Oder vielleicht liegt sie in der Kunst des Holzfällens, wie bei deinem drittältesten Bruder, der jeden Baum so fällt, dass die umliegenden Bäume keinen Schaden nehmen und unsere Wälder immer gesund und grün bleiben.” Der jüngste Sohn antwortete daraufhin: “Ich bewundere meine Brüder für ihre Talente, aber ich selbst verfolge keinen dieser Wege. Ich möchte keine Waffen schmieden, die nur dazu dienen, anderen Lebewesen zu schaden. Mir gefallen die goldenen Ringe und Armreife nicht, die mein Bruder ebenfalls in der Schmiede herstellt, den sie sorgen dafür, dass sich deren Träger über andere erhaben fühlen. Und ich möchte auch keine Tiere im Wald jagen. Ich betrachte sie lieber und erfreue mich an ihrem Leben.”
Der Zwergenkönig unterbrach seinen Sohn mit ungeduldiger Stimme: "Die Waffen sichern unsere Grenzen. Goldene Armreife und prächtige Ketten verkünden unseren Reichtum. Die Tiere, die wir jagen, spenden uns Nahrung und liefern uns Kleidung. Es genügt nicht, ihnen nur beim Spielen zuzuschauen.
Ich verstehe deine Neigungen, aber manchmal muss man über seinen Schatten springen, selbst wenn dieser so groß erscheint wie der höchste Berg in unserem Reich." Mit diesen Worten entließ der König seinen jüngsten Sohn mit der Aufgabe, sich zu beweisen.
Zögernd begab sich der junge Zwerg zu seinem ältesten Bruder und nahm eine robuste Holzfälleraxt entgegen. Im Wald angekommen, fühlte er sich unbehaglich. Jeder Baum erschien ihm zu majestätisch, um gefällt zu werden. Am Waldrand, an der Grenze zum benachbarten Königreich, fand er kleinere Bäume mit zarten Ästen und lichtdurchfluteten Kronen. Vor einem schiefen, kleinen Baum zögerte er einen Moment. “Du bist noch jung und klein, ein wenig krumm und schief”, flüsterte er. “Wenn ich schon einen Baum fällen muss, dann lieber dich.” Doch ehe er die Axt erheben konnte, erklang eine leise Stimme aus den Zweigen: “Wenn du mich fällst, beraubst du mich der Chance, ebenso hoch zu wachsen wie meine Schwestern und Brüder. Meine Äste haben noch nicht die Gelegenheit gehabt, gen Himmel zu streben!”
Da überkam den Zwerg ein Gefühl der Barmherzigkeit, und er ließ die Axt sinken. “Ich danke dir!”, flüsterte der Baum. “Das werde ich nicht vergessen.” Mit unvollendeter Aufgabe machte sich der Zwerg auf den Heimweg. Als er seinem Vater, dem König, erklärte, warum er den Baum nicht gefällt hatte, nickte dieser verständnisvoll. “Dein Mitgefühl ehrt dich, aber denke stets an das Wohl aller Zwerge. Morgen wirst du erneut losziehen und deine Aufgabe erfüllen.”
Am nächsten Morgen erbat der jüngste Sohn des Zwergenkönigs einen Bogen und einen Köcher mit mehreren Pfeilen von seinem zweitältesten Bruder. Dieser riet ihm: “Wenn du einen Hasen erlegen möchtest, dann geh zum Rande des Waldes. Auf den angrenzenden Feldern wirst du bestimmt einen finden!” Entschlossen begab sich der junge Zwerg erneut zum Feldrand. Als er am kleinen Bäumchen vorbeikam, winkte es ihm mit einem seiner krummen Zweige zu.
Am Rande des Waldes blieb der Zwerg stehen und betrachtete die weiten, fruchtbaren Felder des Menschenkönigreichs. Bald entdeckte er einige junge Hasen, die über die Felder hüpften. Als er den Bogen spannte dachte er an die Worte seines Vaters: “Zum Wohle der Allgemeinheit muss man manchmal über seinen eigenen Schatten springen”, hallten die Worte in seinem Kopf wider. Plötzlich erklang eine Stimme neben ihm, und als er sich umdrehte, sah er einen großen, alten Hasen am Waldrand sitzen. “Wenn du jetzt einen von jenen dort schießt”, sprach der Hase, “nimmst du ihm die Chance, eine eigene Familie zu gründen und den Wald zu bevölkern. Er wird nicht mehr mit seinen Geschwistern über die Felder springen können.” Der Zwerg verspürte erneut Mitgefühl und ließ Pfeil und Bogen sinken. “Vielen Dank!”, sprach der alte Hase. “Das werden wir dir nie vergessen!”
Ohne seine Aufgabe erfüllt zu haben, machte sich der Zwerg auf den Rückweg. Als der König am Abend die Geschichte seines jüngsten Sohnes vernahm, wurde er zornig. “Wenn du morgen wieder mit leeren Händen zurückkehrst”, drohte er, “wird das deine letzte Chance gewesen sein, deine Stärke zu finden. Von da an wirst du jeden Tag im Bergwerk arbeiten.” Am nächsten Morgen begab sich der junge Zwerg erneut in den Wald, auf der Suche nach seiner Begabung. Als er den Waldrand erreichte, ließ er sich entmutigt neben dem krummen, kleinen Bäumchen nieder. “Was, wenn ich gar keine Stärke besitze?”, murmelte er verzweifelt. Während er darüber nachdachte, wie er die Aufgabe seines Vaters erfüllen könnte, hörte er plötzlich ein Zischen in der Luft, gefolgt von einem kleinen goldenen Pfeil, der auf ihn zuflog. Der Zwerg hatte keine Zeit zu reagieren und fürchtete, getroffen zu werden, als das kleine Bäumchen blitzschnell einen seiner krummen Äste schwang und den Pfeil von ihm ablenkte. Erleichtert und überrascht zugleich, fand der junge Zwerg seine Stimme wieder und bedankte sich beim Bäumchen für die Rettung. Das kleine Bäumchen antwortete: “Der goldene Pfeil kam von jenseits der Felder. Obwohl ich nicht so groß bin wie meine Geschwister, konnte ich den Pfeil kommen sehen und dich beschützen. Ich bin froh, dass ich dir helfen konnte, genauso wie du mir geholfen hast.”
In dem Moment, als der Zwerg eine Antwort geben wollte, hörte er herannahende Schritte und ein Mensch näherte sich ihm, gekrönt als der Prinz des Reiches der Menschen.
Das Gesicht des Prinzen verdunkelte sich sofort vor Misstrauen. “Hör zu, Zwerg”, begann er streng, “diese Wälder und das Holz gehören allein uns Menschen. Aber ich werde dein Leben verschonen, wenn du mir den Weg nach Hause zeigst. Seit Tagen irre ich durch diesen Teil des Landes und finde nicht mehr aus dem Wald heraus.”
Der Zwerg, der die Zwietracht zwischen den beiden Völkern nie verstanden hatte, antwortete ruhig: “Natürlich werde ich dir helfen, genauso wie ich jedem anderen helfen würde, der meine Unterstützung benötigt. Doch den Weg kenne ich nicht. Nur meine Freunde, die Hasen, können uns führen.” Also rief der Zwerg nach den Hasen und gemeinsam begaben sie sich mit dem Prinzen auf die Wanderung aus dem Wald heraus. Während sie diesen langen und beschwerlichen Weg gemeinsam gingen und sich unterhielten, lernten sie sich kennen und verstehen. Als sie schließlich die königliche Stadt erreichten, hatten sie eine tiefe Freundschaft geschlossen. Ihr harmonisches Miteinander diente anderen als Vorbild.
Als Dank für seine Hilfe erhielt der junge Zwerg für sich und seine Sippe das prächtigste Haus in der Stadt, das Goldschmiedehaus. Die beiden Reiche näherten sich einander an, fanden Frieden und Vertrauen, und der junge Zwerg hatte seine Bestimmung gefunden: die Kunst, Freundschaften zu schließen und anderen wohlzutun. So lebten Menschen und Zwerge fortan in Harmonie und Eintracht, und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.
Was für idiotische Namen, meint ihr? Lehnt euch zurück, macht es euch im Sessel bequem, legt die Füße hoch, schaltet den Fernseher aus und vergrabt die Schlagzeilen des Tages unter dem Misthaufen im Garten. Seid ihr soweit? Dann erzähl ich euch gern, warum sie so heißen.
Seit Schnurgedenken träumte Frau Schnur sich aus der langweiligen Einbauküche im dritten Stock des Miethauses der Eichendorffstraße 17 in ein wahrhaftigeres Leben. Sie lag schmutzigweiß und voller Altersflecken neben dem Waschbecken, in dem Körbchen mit den Siebensachen, wo Frau Dr. Putzig einige Sachen verstaute, die sich in den Schubladen doch nur immer ineinander verkeilten. Dicht neben Frau Schnur und ihren hochempfindlichen Geruchsorganen ein verschrumpeltes und ganz und gar nicht duftendes Schwämmchen, welches schon lange in die Mülltonne gehört hätte. ...
Was Menschen so von ihren alternden Angehörigen sagen, er wird immer weniger, traf auf Schnurangehörige im wörtlichen Sinne zu. Das Schnurknäuel, welches vor vielen Jahren gekauft worden war, wurde zwar nur in großen Abständen genutzt, die Einzelteile aber nach Gebrauch nicht mehr weiterverwendet und so war nicht mehr viel übrig von der ursprünglichen Gestalt. Das Abschneiden tat Frau Schnur nicht weh, wohl aber das nutzlose Herumliegen. Frau Dr. Putzig griff in letzter Zeit immer seltener nach ihr, sei es um die Rouladen zusammenzubinden, mit denen sie manchmal ihre Kollegen verköstigte, oder einen übervollen Müllsack, der sich nicht zuknoten ließ. So hatte sie viel zu viel Zeit und kannte in der Küche alles in- und auswendig.
Vor dem Küchenfenster stand ein Apfelbaum und dank ihm den Wechsel der Jahreszeiten zu verfolgen, war Frau Schnurs liebste Unterhaltung. Der kurze Zauber der zarten weißen Blüten im April, das Gesumm und Gebrumm, welches sie mit Leben erfüllte, die wachsenden Früchte und ihr wunderbarer Duft, der bei offenem Fenster zu ihr hereinwehte und das Plopp der fallenden Äpfel im Herbst, denn schon lange kümmerte sich niemand mehr um diesen Baum und die Äpfel waren wurmstichig, fleckig und im wesentlichen Nahrung für die Vögel, die Frau Schnur selbst im Winter ihre vielstimmigen Lieder vorsangen.
Nun war es Ende November, die Tage kurz und fad, das Küchenfenster meist geschlossen. Am nebligsten und fadesten Novembertag von allen geschah ein Wunder, das einzig Frau Schnur auffiel und von langer Hand vorbereitet war. Sie allein hatte die Zeit und die Geduld gehabt, dem dünnen Ästchelchen beim Wachsen zuzusehen, welches dem Küchenfenster am nächsten war. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit klopfte es sacht an die Scheibe. Frau Schnur konnte es kaum glauben . „Jetzt bin ich endlich bei Ihnen!“, hörte sie dumpf durch das Doppelglas.
„Können Sie mich hören?“ Frau Schnur blickte sich rechts und links um, das Schwämmchen glotzte weiter stinkend vor sich hin, der Wasserhahn tropfte, weil Frau Dr. Putzig ihn mal wieder nicht richtig zugedreht hatte. „Ja, Sie meine ich! Ich bin es, Herr Ast! Dürfte ich wohl Ihren Namen wissen?“ Frau Schnur erzitterte vor Glück. Das Ästelchen hatte sie gesehen! Das Ästelchen hatte zu ihr gewollt. Das Ästelchen sprach sie an. „Frau Schnur, angenehm.“ „Wollen Sie mir mit tanzen, Frau Schnur?“, fuhr die dumpfe Stimme fort. „Mit mir? Meinen Sie wirklich mich?“. „Ja wen denn sonst? Sie sind doch die Schönste und Biegsamste in der ganzen
Küche.“ Frau Schnur konnte nicht glauben, was sie da hörte, aber die Stimme sprach weiter.
„Seit Jahren schau ich zu Ihnen herüber und konzentriere alle meine Kräfte drauf, bis zu Ihnen zu wachsen. Jetzt habe ich es geschafft. Können Sie die Scheibe öffnen?“ „Nein, soviel Kraft habe ich nicht. Aber morgens lüftet Frau Dr. Putzig immer einige Minuten, wenn sie sich vom Frühstückstisch erhebt, vielleicht können wir da zueinander?“ „Ein wunderbarer Plan. Wenn uns kein Glas mehr trennt, brauchen Sie nur diesen Zauberspruch aufzusagen ´Herr Ast, ich liebe Sie feurig und innig, meine Sehnsucht will eines nur: tanzen.ˋ und dann können Sie diesen traurigen Ort verlassen, der so gar nicht zu Ihnen passt “„Aber ich kann doch gar nicht tanzen.“ wiegelte Frau Schnur ab. „Unsinn. Sie haben die geschmeidigste Gestalt, die ich mir vorstellen kann, Sie können sich komplett um mich herumwickeln, ich halte Sie schon fest. Bis morgen also!“
Frau Schnur schlief die ganze Nacht nicht vor lauter Aufregung. Als Frau Dr. Putzig sich verschlafen ihren Kaffee aufsetzte und den Toaster bediente, blinzelte Frau Schnur zum Fenster und fürchtete schon, alles geträumt zu haben. Aber da war Herr Ast, drückte erwartungsvoll gegen die Scheibe und zwinkerte ihr aus seinem Astauge zu. Die Morgensonne gab heute alles, was ein mitteleuropäischer November hergeben konnte und Frau Dr. Putzig machte ihren Plan nicht kaputt. Als absoluter Gewohnheitsmensch enttäuschte sie das junge Glück nicht. Bevor sie ins Bad ging, öffnete sie das Küchenfenster weit.
„Herr Ast, ich liebe Sie feurig und innig , meine Sehnsucht will eines nur: tanzen.“, flüsterte Frau Schnur, welche die ganze Nachr geübt hatte, den Satz, ohne sich zu verhaspeln, aufzusagen.
„Und ich liebe Sie aus vollstem Herzen, wunderbare Nachbarin, kommen Sie, tanzen wir.“
Frau Dr. Putzig merkte nichts, als sie nach ihrer Morgentoilette nochmal die Küche betrat, um wie gewohnt das Fenster zu schließen. Nicht, dass im Körbchen neben dem Waschbecken jemand fehlte, nicht den innigen Tanz des verliebten Paares vor dem Fenster. Aber Frau Schnur und Herr Ast kosteten diesen verzauberten Augenblick voll aus. Frau Schnur wickelte ihre langen Beine und Arme um den duftenden Körper von Herrn Ast, eine leichte Brise ließ sie beide schaukeln, die Buchfinken sangen ihr Morgenlied, die helle Morgensonne tauchte alles in ein goldenenes Licht und es machte den beiden nichts aus, dass dieses Glück nicht ewig dauern konnte. Sie hatten jetzt ihr Leben ausgekostet und waren zusammen in den Himmel geschwebt, solange es ihnen beschieden war.
Frau Dr. Putzig, die Ordnung liebte , ärgerte sich auf ihrem Weg zum Auto, was wieder alles vor ihrer Haustür herumlag. Das alte Stück Schnur und den kümmerlichen Ast entsorgte sie, wie es sich gehört, in der Mülltonne.